Freitag, 30. April 2021

Jubeldemos und viel Spaß durch eine kleine Regelübertretung

Rafik und ich wandern heute durch die von Touristenhorden verlassenen Teile der Altstadt. Das Ausmaß der Krise wird einem in dem Teil von Damaskus, in dem ich mich meist aufhalte gar nicht so klar, denn dort sind eh kaum Europäer. Aber zum Beispiel im christlichen Viertel, wo sich sonst Horden von Italienern, Franzosen, Amerikanern oder anderen Touristen durchschieben, merkt man sehr deutlich, dass sich da was verändert hat. Die Straßen sind, bis auf wenige Einheimische menschenleer. Wir trinken einen Kaffee im Beit Zaman, und man kommt sich schon fast wie ein Eindringling in ein im Dornröschenschlaf liegenden Ort vor, der mit seinen vor sich hin dämmernden Garcons, die gelangweilt auf dem Kassencomputer Karten spielen und dem noch ausgestellten Kaffeevollautomaten erst wachgerüttelt werden muss. Huch! Gäste! Wo kommen die denn her? Das hatten wir ja schon lange nicht mehr, wollen die verstörten Augen des dahinschlummernden Personals sagen. Aber immerhin, es gibt noch Kaffee. Auf dem Weg durch den Rest der Stadt fällt aber vor allem die vollkommene Abwesenheit der Polizei auf (bis auf die den Verkehr „regelnden“ Polizisten). Und das merkt man zuförderst durch den Wildwuchs beim Straßenhandel und dadurch, dass offenbar die letzten Tabus gefallen sind. Man sieht Menschen auf der Straße Alkohol konsumieren! Das ist hier verboten, aber da die Polizei eben im Moment nichts macht, tun es die Leute. Und: es werden Pornos auf der Straße verkauft! Mir stockte der Atem. Am helllichten Tage, in einer belebten Einkaufsstraße: Pornos! Daran kann man das Ausmaß der derzeitigen Krise gut erkennen. Es muss schlimm um Syrien stehen. Dann gehen wir die Demo angucken. Aus allen Richtungen strömen sie mit Syrienfahnen herbei. Das wäre mal ne Geschäftsidee hier: Syrienfahnen. Ich glaube, das ist hier der einzige Geschäftszweig, der noch läuft. Ich würde ja sogar diversifizieren und auch russische und chinesische Fahnen anbieten, die man hier zurzeit auch gern sieht. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber es sind viele. Sicher mehr als eine Million, denn es scheint, als sei die ganze Stadt auf den Beinen. Dann, so ab 20 Uhr gibt es Feuerwerke in Permanenz. Ich habe erst gedacht: oh, ein Feuerwerk, und als nach 15 Minuten das Nächste begann, dachte ich: holla, noch eins. Bis zum achten habe ich noch mitgezählt aber jetzt, um Mitternacht wird weiterhin Pyrotechnisches in Permanenz dargeboten. Es scheint grade so, als wollte man dem bösen Geist des Aufruhrs in dieser Hinsicht Herr werden. Seit 22 Uhr nun fahren die Menschen hupend und Fahnen schwenkend durch die Gegend. Die Schlachtrufe sind weithin zu hören: „Abu Hafez“ (Vater von Hafez) ist einer, der mir neu scheint. Tatsächlich heißt der Sohn Baschars – wie sein Vater – Hafez. Aber in der Nennung dieses Namens schwingt natürlich mehr mit. Hafez immerhin hat es `82 hingekriegt, gell? Daneben wird alles, was die nationalistische Musikkiste zu bieten hat laut aus dem Auto gespielt. „Dumdumdumdum Suria dumdumdumdum“ und so weiter. Naja, das meiste kann ich inzwischen mitsummen. Auch, wenn es natürlich eine durch die Regierung organisierte Demo ist, es sind weit mehr, als zu allen Oppositionsdemos kommen würden. Und bei weitem nicht alle sind hierhin zwangsverpflichtet. Sicher aber ist eins: In den Medien im Westen wird man über diese Demo nichts zu hören bekommen. Am Abend erste Mal mit Ali (der sich wieder von besagtem Freund mit der Autovermietung, die eben auf außergewöhnlich beschädigte Vehiküle spezialisiert zu sein scheint, einen Wagen geliehen hatte) zum Berg Qassiun gefahren. Der Wagen hatte den Vorteil, dass er gleichsam durch seine Akustik schon eine Warnung gab, die Alis waghalsige Art zu fahren ankündigte. Das Gefährt hörte sich an, wie eine betagte zweimotorige Propellermaschine beim Startvorgang. Nur, dass dem Getöse kaum eine entsprechende Beschleunigung folgen wollte. So quälten wir uns mit viel Lärm den Berg hoch und dort waren wir nicht allein. Man behauptet nicht zuviel, wenn man sagt, das tout Damas sich dort oben ein Stelldichein gab. Horden von nach Musik aus dem eigenen Wagen tanzenden Kurden, im Wagen feiernde Hochzeitsgesellschaften, die fröhlich trillerten, Jugendliche und Ältere, die gemütlich beisammen saßen und rauchten oder tranken (denn es gab – ich hatte schon erwähnt, dass auch die letzten Tabus in dieser Stadt erodieren – Alkohol zu kaufen) oder wild tanzten (da müssen auch andere Drogen als Alkohol im Spiel gewesen sein). Und durch all die Massen, die von illegalen Cafes bewirtet wurden (kein Felsvorsprung kann zu klein sein, um auf ihm einen Klapptisch und eine Neonröhre anzubringen und dies ein Cafe zu nennen) quälten sich die Wagen derjenigen, die es vorziehen, im eigenen Fahrzeug zu bleiben und dort zu „feiern“ (was hier, wie im Süden ja überhaupt, eine Vorliebe Vieler zu sein scheint). Wir haben ein bisschen gesessen und auf die Stadt heruntergesehen, die sich von hier aus ja wundervoll überblicken lässt. Sie ist eben so groß, bzw. der Berg Qassiun ist eben so hoch, dass die Stadt von hier aus erst am Horizont zu enden scheint und man hat immer den Eindruck von Häusermeer. Dann sind wir weiter, die Einbahnstraße um den Berg herum gefahren, bis Ali auf die wahnsinnige Idee kam (die Abwesenheit jeglicher Ordnungsmacht lässt die Menschen eben auch auf sonderliche Ideen kommen), die Straße entgegen den anderen Fahrzeugen zurück zu fahren. Das Problem, welches sich dabei eben nur stellt: die Straße ist definitiv nicht zwei Spuren breit, von stark schwankender Breite, an beiden Seiten durch unregelmäßig hohe Betonsperren begrenzt und sie ist voll von Menschen und allem, was da rollt. In Deutschland wäre man spätestens nach den ersten zehn Metern von ordnungsliebenden Bürgern aus dem Wagen gezerrt und gelyncht worden. Nicht so in Syrien! Alle haben lachend und scherzend versucht Platz zu machen, um unser (zugegeben langsames) Vorankommen zu ermöglichen. An mehreren Stellen dachte ich schon, wir würden jetzt die ganze Nacht in dieser Position zubringen müssen, denn es taten sich über lange Zeiten keine Lücken auf, in die Ali mit dem Wagen „vorstoßen“ hätte können. Auch nochmals zu wenden wäre ein vollkommen untaugliches Instrument gewesen, der misslichen Lage zu entkommen, da vollkommen hoffnungslos. Aber meist klappte es dann irgendwie, mit dem ein oder anderen abgefahrenen Außenspiegel und der ein oder anderen zusätzlichen Schramme doch voranzukommen. Mehr als ein Mal war es allerdings nötig, dass Passanten regelnd in das Verkehrsgeschehen (denn von Verkehrsfluss kann nicht die Rede sein) eingriffen, um allzu verknotet erscheinende Zusammenballungen von Fahrzeugen zu entflechten, aber die Stimmung blieb die ganze Zeit fröhlich und ausgelassen, man sang und klatschte weiter den Takt der viel zu laut aus jedem der ineinander verkeilten Wagen schallenden Musik. Die Kompliziertheit des Vorankommens wurde nicht dadurch gemindert, dass Ali sich in einer besonders verworrenen Situation entschlossen hatte, auf Linksverkehr umzusteigen. Leider war er eben der Einzige der es tat und so war es nicht nur nötig uns auf einer viel zu engen Straße (auf der wir uns wie gesagt in die falsche Richtung bewegten) Platz zu machen, sondern dies immer auch noch nach links. Wir haben für die Strecke, die man zu Fuß gut in fünf Minuten zurücklegen würde fast eine dreiviertel Stunde benötigt, aber es hat (wohl allen Beteiligten) viel Spaß gemacht. Ja, echter Spaß und gute Laune können so günstig, lediglich durch ein paar harmlose Regelübertretungen zu haben sein. 2011

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