Freitag, 30. April 2021

Süßer Nescafe und eine unübersichtliche politische Lage

Ich treffe mich mit Ian im Park. Nescafe und die politische Lage. Erstes zu süß und letzteres unübersichtlich. Ja na klar, sie ist Thema – wie sollte es anders sein? Aber eben doch noch viel differenzierter, als ich es mir in Deutschland mit meinem kleinen Euro-Hirn schon ausgemalt hatte. Ich habe ja nun bisher vor allem mit Rafik und Michel (einem palästinensischen Suniten und einem syrischen Christen) darüber gesprochen. Beide kennen Europa, Deutschland, Demokratie und unsere Lebensweise gut. Beide sind weder fanatisch in die eine (Religiöse Fanatiker) noch in die andere (Baathisten) Richtung. Und beiden gestehe ich eine gute Auffassungsgabe, ein scharfes Gespür für politische Trends und ein entsprechendes Hintergrundwissen zu. Das ist wichtig zu betonen, denn beide äußern Dinge, die man in Europa gern mit „Verschwörungstheorie“, „Spinnkram“ oder anderem ähnlich Gelagertem abtun würde. Für die Masse der in Deutschland Nachrichten Sehenden stellt sich die Lage doch wie Folgt dar: unterdrückte Bürger gehen gegen ein zutiefst korruptes Regime auf die Straße, fordern Demokratie und Freiheit und werden von den Schergen des Regimes erschossen oder festgenommen und gefoltert. Diese durch die Muslimbrüder („Syrian Revolution“) propagierte und über Al-Jazeera kritiklos in alle deutschen Medien übernommene Sichtweise drängt sich einem auf, wenn man einfach nur mal ein paar Tage Nachrichten in Deutschland sieht. Was nun allerdings Rafik und Michel äußern klingt viel differenzierter, allerdings auch viel komplizierter. Und das geht so: Erstens: es gibt Demonstrationen für mehr Freiheit. Diese sind verstärkt in den Gegenden (Daraa, Hama, Homs), in denen die Muslimbrüder eine komfortable Basis haben und es drängt sich der Verdacht auf, dass das, was dort mit „Freiheit“ gemeint ist, vor allem Freiheit von anderen Religionen als einem falsch verstandenen, fanatischen, sunnitischen Islam sein soll. Parolen, die dort gerufen werden: „Aleviten töten und Christen in den Libanon“. Das heißt nicht, dass die Massen das wollen, sondern nur, dass viele Menschen dort von einigen wenigen instrumentalisiert worden sind und werden. Das hat mit Demokratiebewegung so wenig zu tun, wie die Bewegung gegen den Paragraphen 218 mit dem Papst. Zweitens: Es gibt Gegenden, wo offenbar tatsächlich bewaffnete Banden ihr Unwesen getrieben haben und treiben (Jsr Al-Schugur, im Norden an der türkischen Grenze, in der Provinz Idlib), auch wenn diese immer weiter in den Norden abgedrängt werden. In diesen Gegenden fanden vor den Unruhen keinerlei Demonstrationen statt, die das Regime hätte niederschlagen können. Es ist in diese Städte einmarschiert, nicht um eine wie auch immer geartete Demokratiebewegung zu unterdrücken, die es dort eben gar nicht gab, sondern offenbar wirklich um bewaffnete Banden zu bekämpfen. Nun fragt sich der Syrienkenner: ein Land, in dem der Geheimdienst weiß, ob ich heute Abend ein Käsebrot oder ein Wurstbrot gegessen habe, soll davon nichts mitkriegen, dass bewaffnete Banden ihr Unwesen treiben? Das wird zum Einen mit Korruption innerhalb der Geheimdienste erklärt, die offenbar gegen Geld ein Auge zugedrückt haben, zum Anderen spielt da die Türkei eine ungute Rolle. Aus der Türkei sind anscheinend größere Mengen Waffen an die Muslimbrüder in Syrien geliefert worden. Gleichzeitig wurden die ersten Flüchtlingslager jenseits der Grenze Wochen vor dem Ausbruch der Unruhen eingerichtet (und eine Einladung an die Syrer mehrfach ausgesprochen, doch bitte zu flüchten). Die Türkei wusste also recht zeitig, dass es dort, in der grenznahen Region zu Unruhen kommen würde, hat was die kommenden Flüchtlinge angeht, vorgebaut und die Unruhen selbst mit hervorgerufen. Dieses Vorgehen kennen wir von Rumsfeld, der ja wusste, dass Saddam Hussein Chemiewaffen hatte, da er sie ihm zuvor selbst verkauf hatte – ganz so neu ist so ein Vorgehen in der internationalen Politik also nicht. Dass die Türkei dann zeitgleich den Muslimbrüdern einen „Oppositionskongress“ in der Türkei bereitet, wo diese sich als syrischer Widerstand präsentieren können, ist ein ähnlicher Freundschaftsdienst, als würde Syrien einen Kongress der PKK auf syrischem Gebiet organisieren. Wer solche Freunde hat... Drittens: Es gibt Demonstrationen für Demokratie und Freiheit (überall und immer mal wieder), bei der vom Geheimdienst Menschen festgenommen oder erschossen werden. Viertens: Viele der mit großer Entrüstungdem Regime in die Schuhe geschobenen Gräueltaten (nicht alle!) sind inszeniert. Die Landstraße bei Daraa mit den blutverschmierten Leichen ist wohl ein gut gemachtes Video mit viel Theaterblut (was inzwischen angeblich belegt ist). Die friedlichen Gläubigen in Daraa hatten ihre Moschee voller Waffen und haben nicht „Olivenzweige“, sondern Gewehre zur Begrüßung der Soldaten geschwenkt. Die beiden jugendlichen Folteropfer in Daraa (deren Schicksal jeden zivilisierten Menschen erschaudern lies) sind (lt. Michel von jordanischen Ärzten mehrfach bestätigt) nicht von staatlichen Stellen, sondern nach ihrem Tod von Verbrechern so hergerichtet worden, damit sie zu Propagandazwecken gegen das Regime ausgenutzt werden können (man weiß nicht, was geschmackloser ist). Rafik und Michel zählen eine ganze Reihe von offensichtlichen Lügen und Fehlinformationen auf, die uns aber zuerst als Nachrichten aufgetischt worden sind, wohingegen wir vom kleinlauten Dementi kaum etwas erfahren haben. Fünftens: In Damaskus und Aleppo, aber zunehmend auch in anderen Städten und selbst an Orten, die zuvor im Fokus der Unruhen standen, gibt es riesige Demonstrationen für die nationale Einheit, für den Präsidenten und für Reformen. Obwohl es im Westen nicht so aussieht, steht die Mehrheit der Syrer vermutlich noch hinter dem Präsidenten (wenngleich seine Entourage sich desavouiert zu haben scheint). Mehrere Hunderttausende, in Damaskus auch mal ne Million – das können nicht alles bezahlte Jubelsyrer sein. Natürlich sind viele Staatsangestellte dorthin verpflichtet, es gibt aber immer noch genügend Menschen, die auch freiwillig dorthin gehen. Vermutlich hat das mit zwei Entwicklungen zu tun: Erstens der Hoffnung, dass es jetzt wirklich zu echten Reformen kommen möge, zweitens der Angst, dass das Land in einem Bürgerkrieg versinkt und jahrelanges Chaos herrscht. Sechstens: Eine wirkliche Gefahr ist die wirtschaftliche Situation. Da zur Zeit alles Brach liegt, werden immer mehr Menschen arbeitslos, kommen immer weniger Menschen in den Genuss, von der bisherigen wirtschaftlichen Öffnung zu profitieren. Wenn die Händler und die Mittelschichten, die noch von ihrem Ersparten leben können, ihre Unterstützung für das Regime fallen lassen (Ian meint gegen Weihnachten wäre es dann soweit), dann kann es für die momentane Regierung gefährlich werden. Bisher sind allen Unkenrufen zum Trotz und gegen jede donnerstägliche Beschwörung in Aleppo (dem Wirtschaftszentrum des Landes) eben Freitags keine großen Demonstrationen gewesen. Die Demonstrationen in Damaskus halten sich (auch wenn skandalgierig von tausenden Demonstranten berichtet wird) eben bisher sehr im Rahmen einiger Duzender Gläubiger nach dem Freitagsgebet und verlaufen sich immer recht schnell. Nun soweit zu meinem ersten, kleinen tagespolitischen Exkurs, der sich – wie gesagt – vor allem auf die Quellen meiner Gesprächspartner der ersten Tage hier berufen kann. Und mitten in dieser brisanten und verzwickten politischen Situation, laufe ich heute durch die Stadt und Damaskus erscheint mir wie ehedem. Als ich das heute feststelle, die Scha’alan-Straße entlang gehe, wie so viele hunderte Male zuvor auch, nichts sehe, außer eben den wahnsinnig netten Menschen überall, läuft mir ob dieser Wahrnehmung fast ein Schauer über den Rücken so verderbt war mein Bild von Syrien aus den deutschen Nachrichten schon. 2011

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