Freitag, 30. April 2021

Sandige Orte, habsüchtige Frauen und phosphorisierendes Eis

Der Wind von gestern hat sich in einen veritablen Sandsturm gewandelt. Ich halte in guter Erinnerung Fenster und Türen geschlossen, soweit man bei diesen Fenstern und Türen von geschlossen reden kann, bei fußballgroßen Löchern oder teils fehlenden Scheiben. Solange ich am Vormittag zuhause bleibe und lese ist alles klar. Aber als ich am Nachmittag eine Landpartie vage, um Khalet zu besuchen, der Richtung Dara’a in Sehnaya wohnt, wird mir recht schnell klar, dass das ein Unterfangen ist, bei dem ich einsandungstechnisch an meine Grenzen gerate. Schon während der Hinfahrt bin ich allein durch den permanent ins Fenster wehenden Dreck complettement eingestaubt. Aber bei fast 40 Grad schließt man das Fenster auch nicht so einfach ungestraft. Nach einer kurzen Runde durchs Dorf, in dem es fast keine asphaltierte Straße gibt, wird mir der Vorzug solcherlei Straßenbelages, insbesondere bei starkem Wind recht schnell deutlich. Man kann vor Staub und Sand die Hand vor Augen kaum erkennen, wenn man sich denn traut, die Augen offen zu halten. Ich lasse mich eher wie ein Blinder mit zugekniffenen Augen durch die Gegend geleiten. Ich war noch nie so staubig und dreckig! Sogar an den Wimpern haben sich leine Sandperlen aufgereiht! In einen sandig-grauen Film gehüllt steige ich zuhause unter die Dusche und siehe da: auf dem Boden dieser bildet sich eine kleine Sandlandschaft nach, deren Sandbestand sich allein aus meinen Haaren und von meiner Haut speist. Erstaunlich! Rafik erlebt unterdessen der Kühlschrankreparatur-Arie letzten Akt: die Kühlschrankreparaturbezahl-Arie! Nachdem der Vermieter nach einigen Hin und Her ja sagte, dass wir das reparieren lassen sollen, er es bezahlen werde, hieß es nun heute von seiner Frau, die uns das Geld aushändigen sollte, dass das zu teuer sei und wir die Hälfte selbst zahlen sollten (wieder mit der Argumentation, der Kühlschrank habe ja funktioniert, als wir die Wohnung übernommen hatten). Das Problem: das Prinzip! Es handelt sich nicht um eine große Summe, aber ich sehe nicht ein, in einer Wohnung, für die ich eine recht erhebliche Miete entrichte, auch noch für die Reparatur notwendiger Küchengerätschaften aufzukommen. Rafik und ich hatten uns also schon darauf geeinigt, dass wir mit einer Beschwerde beim Tourismusministerium drohen würden, denn dieses hat ja ob der Krise im Tourismus im Moment gar nicht allzu viel zu tun und ihm wird das Wohlergehen eines der letzten Touristen in diesem Lande bestimmt am Herzen liegen. Ein Anruf beim Vermieter klärt die Sache aber auf, denn er beginnt uns sogleich von seiner geldgierigen Frau zu klagen, die alles an sich raffe und stellt uns in Aussicht, selbstredend auch die zweite Tranche der Kosten zu übernehmen, wenn doch bloß seine habsüchtige Frau ihn lasse, aber das werde er schon hinbekommen. Nun, wir warten auf seine Rückkehr in die syrische Kapitale, denn zur Zeit hält er sich für Trauerfeierlichkeiten an der Küste auf. Wir telefonieren mit Hamoudi aus Hama - dem Hotspot des Geschehens. Er würde gern nach Damaskus kommen, aber er traut sich nicht. Der Weg ist manchmal zu gefährlich. Nicht wegen der Soldaten! Tatsächlich wegen bewaffneter „Banditen“ (ob man es nun glaubt oder nicht!). Reisebusse fahren wohl zur Zeit nur noch mit Militäreskorte, und dennoch passiert ab und zu mal was. Er bleibt also in Hama und sagt uns auf Nachfragen, dass es tatsächlich nicht die Soldaten seien, die dort Probleme bereiten, sondern andere Elemente, die auch nicht aus den Sicherheitskräften kämen. Die blöden berichte über in alle Richtungen schießende Soldaten, vor denen sich die Bevölkerung in Sicherheit habe bringen müssen seien wirklich übertrieben gewesen. Rafiks Verwandte in Homs haben ihm Ähnliches von dort berichtet. Oh man! Verwirrend! Wie durch ein Wunder sind wieder Erdbeeren in dem kleinen Obstladen bei mir um die Ecke aufgetaucht, der sonst durch ein eher bodenständiges Angebot bestickt. Ob es sich um eine Laune der Natur, ein Trick des israelischen Geheimdienstes oder eine neue Errungenschaft der niederländischen Lebensmittelindustrie handelt, kann ich nicht sagen. Geschmacklich bewegen sie sich – wie ich später feststellen dufte – im mittleren Segment. Da ich vorhatte, sie mit Eis zu mir zu nehmen, habe ich welches erstanden, das mich dann zuhause doch überrascht hat: die Geschmacksrichtung „Erdbeer“ (Es gab kein reines Vanilleeis) bestickt vor allem durch ihr phosphorisierend leuchtendes Pink! Insbesondere im Kontrast zu den „natürlichen“ Erdbeeren mit ihrem satten, dunklen Rot fällt auf, dass es sich nur schwerlich um die Farbe von Erdbeeren handeln kann, sondern wohl eher um das, was sich der Syrer unter der Farbe von Erdbeeren vorstellt (oder was die Lebensmittelchemiker der Firma Ülker über diese Vorstellung vermuten). Überhaupt haben die Lebensmittel hier oftmals andere Farben, als bei uns. Sei es durch das Weglassen oder Hinzufügen von färbenden Zusatzstoffen. Milch ist bei uns ja meistens weiß. Ich glaube fast, das sie so auch aus der Kuh kommt. Hier aber hat sie die Farbe, die bei uns Vanillemilch hätte, ein mildes gelb! Dafür ist der Käse, der bei uns ja eher gelb ist, hier oftmals etwas gräulich – was ich unappetitlich finde. Über die Farbe der Bonbons (alle phosphorisierenden und abscheulich-künstlichen Farben der chemischen Industrie) ganz zu schweigen! Und selbst Saft muss hier bunt sein! Am Abend ruft Michel an, er sei auf dem Weg zum Menschiye, daher gehe auch ich später noch mal dahin und schnacke lange mit ihm. Gegen zwei Uhr nachts wird die Szenerie bedrohlich. Erstens treibt sich nur noch Halbwelt um diese Zeit in dieser Gegend rum, zweitens sehe ich das erste Mal das, was die internationalen Medien immer als „thugs“ beschreiben. Männer in zivil mit Holzknüppeln. (In Wahrheit sehe ich nur einen – aber das reicht ja schon.) Mir wird sofort klar, dass eine der zentralen Forderungen an einen demokratischen Rechts-Staat sein muss, dass diejenigen, die das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen, Uniformen zu tragen haben. Bei diesen Banden weiß man eben gerade nicht (und das wird sicher bewusst eingesetzt), wer es denn ist. Der Staat kann immer sagen: wir sind es gar nicht, es sind bewaffnete Banden! „Bewaffnete“ Un-Uniformierte lassen eben gleich eine diffuse Bedrohung entstehen, die Menschen einschüchtert. 2011

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