Freitag, 30. April 2021

„the fastest killing ever“ und Fahnenschwenken als social event

Ich musste, um des Ameisenbefalls meiner Behausung Herr zu werden doch zu härteren Mitteln greifen. Jetzt habe ich den Salat und die Wohnung stinkt wie eine ausgeräucherte Kakerlakenhöhle. Das herkömmliche Ameisenpulver führte nur dazu, dass die Ameisenhauptwanderwege um einige Zentimeter verlegt wurden. Mein superschlauer deutscher Haushaltstipp: Backpulver, von dem ich nicht mal weiß, ob er in Deutschland eine Wirkung zu entfalten in der Lage wäre, hat hier ganz und gar nicht geholfen – au contraire! Die Ameisen scheinen Backpulver hier zu lieben und alle ihre Freunde dazu einzuladen und denken nicht im Traum daran, zu sterben. Also musste es „the fastest killing ever“ aus dem Supermarkt sein. Ein schöner Slogan! Und tatsächlich: deutliche Reduktion der Ameisenpopulation allerdings um den Preis, dass die Wohnung nun nur noch mit offenen Fenstern zu betreten ist, was bei den 36 Grad den Effekt der Klimaanlage konterkarieren würde. Aber diese hat nun eh schon nach zwei Tagen wieder den Geist aufgegeben. Vermute, dass die Ersatzteilbeschaffung für das antike sowjetische Liebhaberstück sich wieder langwierig gestalten wird... Am Nachmittag das erste Mal im Kino gewesen. Alles wie gehabt: ägyptische Komödien und amerikanische Action-Film-Verschnitte. Dass es zwischen den Filmen keine Pause mehr gab, laste ich mal der Unaufmerksamkeit des Filmvorführers an und schließe also nicht auf eine Direktive des Präsidenten zur Verhinderung spontaner Proteste in Kinopausen. Allerdings ist das Büffet, welches von einer entzückenden jungen Tunte betrieben wurde, nicht mehr vorhanden. Der Chipsständer steht noch verwaist in der Ecke und auf Nachfrage werden auch noch kühle Getränke ausgegeben. Aber die Verkäuferin ist, wie mir auf Nachfrage mitgeteilt wurde, nun in der Türkei und versucht sich dort ein Leben aufzubauen, fern ihrer Familie (aus der syrischen Provinz), die sie hier wegen ihrer Homosexualität verfolgte. Ich hoffe, dass sie Glück hat. Am Abend bin ich bei Suse meiner alten Freundin. Auf dem Weg ist wegen der zahlreichen Händler auf der Straße kein Durchkommen. Jeder Quadratmeter Fußweg wird mit Waren zugestellt. Die Polizei, die vormals solche Straßenhändler vertrieb, hat gerade offenbar an anderer Stelle genug zu tun und lässt sie gewähren, auch um nicht einen weiteren Unruheherd zu schaffen und weil, wie Rafik mir erklärt, wegen der allgemein schlechten Wirtschaftslage die Regierung den Leuten eh keine andere Arbeit anbieten könnte. Ja, die Regierung muss sich hier eben um alles kümmern! Auch um Dinge, für die Gemeinhin die Wirtschaft zuständig wäre. Dass die Wirtschaftslage schlecht ist, stelle ich auch an einem anderen Ort fest: das Maged-Hotel ist wegen Mangel Gästen komplett geschlossen. Suse berichtet von der Schließung des Goethe-Instituts. Sie ist noch immer empört. Von einem auf den anderen Tag wurde alles abgebrochen. Es sei eine richtige Weltuntergangsstimmung gewesen. Einige Studenten hätten geweint und seien verzweifelt gewesen, die meisten Lehrer ratlos, warum jetzt und warum ohne jede Ankündigung. Von einem auf den anderen Tag hat dann die Leitung das Land verlassen. Nur zwei der Lehrerinnen sind auch abgereist. Eine, die seit 32 Jahren hier war, hatte 1982 Hama miterlebt. Die andere wohnte außerhalb von Damaskus und kriegte Panik, als sie Panzer in der Straße gesehen hat. Alle anderen Lehrer sind geblieben. Man hätte die Kurse, die in zwei Wochen beendet gewesen wären, ohne Probleme zu Ende bringen können. Unverständnis, dass ein Institut solcher Art in einem derartigen Land offenbar keinerlei Krisenplan hatte. Die Leitung wirkte vollkommen kopflos. Bis auf die Zettel „Bis auf Weiteres geschlossen“ wurde Nichts veranlasst. Es gab keine Erklärung, keine Rückzahlung der Gebühren, keine Beendigung der Kurse, keine Examen und vor allem zu dem Zeitpunkt keinen Grund. Das ist es, was Suse am meisten aufregt. Sie hat, wie viele ihrer Kollegen die Kurse bei sich zuhause privat noch zu ende geführt. Bei unseren kleinen politischen Diskursen stellen wir fest, dass die enormen Manifestationen für den Präsidenten natürlich zum Teil organisiert, aber eben auch von vielen freiwillig besucht werden. Dabei ist das offenbar eher so eine Art Event. Ich hatte gestern schon das Gefühl, dass diese "Party" genannten "Demos" was von Fußballereignissen haben. Eine unbeschwerte Freizeitbeschäftigung. 80% derjenigen, die dort hingehen, mithupen und Fahnen schwenken würden das sicher auch für alles andere machen. Einige gehen eben hin, weil es ein social event ist. Aber es ist doch noch etwas mehr und dieses Mehr ist der politische Aspekt daran, denn diejenigen, die dort hingehen sind nicht vor allem an diesem Regime interessiert, sondern ihr vorrangigstes Begehr ist Ruhe und Frieden. Sie wollen vermeiden, dass Syrien in einen Bürgerkrieg abdriftet, die Möglichkeit, die Michel, Rafik und andere erstmal verneinen, wobei sie sich aber schnell eines Schlechteren belehrt sehen könnten, wenn man die Lage mit dem Irak oder dem Libanon vergleicht, was eben durchaus doch möglich ist. Da dieses Regime eben Frieden und Ruhe bietet, sind sie bereit es zu tolerieren, auch wenn sie desweiteren nicht zu seinen Profiteuren gehören. Aber es sind noch andere wichtige Dinge geschehen. Zum Beispiel ist – wie sollte es anders sein – die erneute Klimaanlagenreparatur erfolglos geblieben. Als der Fachmann, von dem ich bis heute nicht überzeugt bin, da ja schon die letzte Reparatur nurmehr zufällig fruchtete (und ich natürlich nicht im Traum geglaubt hatte, dass diese Klimaanlage länger als drei Tage funktionieren würde) mit dreistündiger Verspätung endlich erschien, waren wir bei nunmehr 45 Grad unterm Dach bereits im wahrsten Sinne des Wortes weichgekocht. Zum Glück stellte sich recht zügig heraus, dass er nicht viel würde ausrichten können. So hat er sein erneutes Kommen für morgen Nachmittag annonciert. Sollten neuerliche Bemühungen seinerseits ähnlich fruchtlos verlaufen wie heute, werde ich mit Nachdruck einen Ventilator fordern! Bei inzwischen 40 Grad Außentemperatur abends sind bei mir unterm Dach in der Wohnung sicher noch über 45°. Da ist ein besonderes Kühlmanagement erforderlich, denn wieder ist alles, was man anfasst deutlich wärmer als man selbst, was ein komisches Gefühl ist (auch das Bett, das einem Heizbette gleicht). Ich bewundere meinen Laptop, an dem ich mir gerade die Finger fast verbrenne, dass er immer noch läuft. Ich sprühe mich mit gekühltem Wasser aus dem Sprühzerstäuber ein, das kühlt gut. Und ich gieße Wasser auf den Balkon, in der Hoffnung von der Verdunstungskühlung zu profitieren. Zu guter Letzt gehe ich geduscht und unabgetrocknet ins Bett – man will nichts unversucht lassen, die Nacht zu überleben ohne den Hitzetod zu sterben. Nach Suse sehe ich noch Rafik im Park. Wir trinken Tee am Marje, danach zu Ian in den Menschiyye-Park, wo die Hölle los ist! Tunten aus allen Teilen des Landes haben sich nun hier versammelt. Eine größere Dichte an homosexuellen Menschen unter freiem Himmel habe ich außerhalb eines Gay-Prides selten gesehen. 2011

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